Trento: Städtetrip ins Zentrum der Leichtigkeit - [GEO]

2021-12-27 12:07:40 By : Ms. Wendy Chen

Ein halbnackter Meeresgott ist nicht unbedingt das, was man in einer norditalienischen Gebirgsstadt erwarten würde. Die Krone aufs halblange Haar gedrückt und eine Art Badetuch um die Hüften geschlungen, so steht Neptun auf dem Barockbrunnen der zentralen Piazza Duomo, dem Wohnzimmer von Trento. Seinen Dreizack hält er den Passanten entgegen, die zu seinen Füßen gemütlich über das Pflaster radeln. Oder vielleicht gilt die Geste auch den Bergen des Etschtals, die respektvoll Abstand halten.

Trento, man spürt es sofort, ist ein Ort, an dem Mediterranes und Alpines zusammenfließen. In den Bars zischen Espressomaschinen, der Gemüsehändler grüßt die Stammkundin mit einem "Jeden Tag wirst du schöner!", und den Verkehr auf der Via Torre Verde regelt ein vigile, ein Schutzmann im weißen Kurzarmhemd, "che eleganza"! Doch wenn ein Fußgänger es wagt, die Straße abseits des Zebrastreifens zu überqueren, gellt ihm sofort ein empörter Trillerpfiff hinterher.

Undenkbar im Rest der Nation, wo Ordnungshüter selbst beim Parken in dritter Reihe ein Auge zudrücken. Doch Tugenden wie Disziplin werden in Trento geschätzt. Vielleicht ein Grund, dass viele Dinge hier reibungslos funktionieren. Die Beschäftigung zum Beispiel. Mit 5,9 Prozent besitzt die Region Trentino-Alto Adige die niedrigste Arbeitslosigkeit Italiens.

Trento belegt regelmäßig Spitzenplätze beim Thema Lebensqualität. Warum? Um die Frage zu beantworten, muss man bloß die Straßen am Dom entlangschlendern. Immer wieder heitern Fassaden mit prächtigen Malereien, Bögen und Säulen die strengen Reihen gotischer Steinpaläste auf. Meister wie Romanino und Fogolino haben einige der Fresken in den Renaissance-Bauten gestaltet, als es im 16. Jahrhundert darum ging, das bis dahin unbedeutende Gebirgsstädtchen für das Konzil aufzuhübschen.

Der Fürstbischofsitz Castello del Buonconsiglio erhielt einen prachtvollen Anbau und der Dom eine zweite Kirche zur Seite, in der die Kleriker sich beraten sollten. 18 Jahre diskutierten Vertreter der katholischen Kirche in Trento darüber, wie der Vormarsch der Protestanten zu stoppen wäre, und ersannen die Gegenreformation. Heute, ein halbes Jahrtausend später, regiert in Trento längst der Glaube an die Zukunft.

Die Universität mit etwa 16.000 Studenten ist für ihre Mathematik und Naturwissenschaftlichen Fakultäten weltweit angesehen. Microsoft errichtete gemeinsam mit der Universität ein Forschungszentrum in der Nähe. Und 2013 öffnete auf einem ehemaligen Industriegelände zwischen Etsch und Eisenbahn das visionäre Museum der Naturwissenschaften "Muse", von Architekt Renzo Piano mit fünfstöckigen Holz-Glas-Spitzen entworfen, die das Bergpanorama ergänzen.

Muse-Direktor Michele Lanzinger sagt auch, Trento selbst sei bei genauerem Hinsehen modernissima. "Wir leben hier den modernen Gesellschaftstraum. Infrastruktur, Wirtschaft, Soziales funktionieren so gut, dass die Trentiner Zeit für das Zwischenmenschliche haben." Piazza-Prinzip nennt das der baumlange, jungenhaft wirkende Lanzinger und möchte die Richtigkeit seiner These gern persönlich demonstrieren – auf der Piazza del Duomo natürlich.

Michele Lanzinger ist in Trento geboren, aufgewachsen, verheiratet und in der Stadt unübersehbar zu Hause, jeden zweiten Passanten grüßt er. Drei Cafés haben ihre Tische ins Freie gestellt, fast jeder ist besetzt. "Hier sitzen sie alle", sagt Lanzinger, "Wissenschaftler, Techniker, Studenten. Weil sie hier ein gutes Leben führen können." Neptun, hoch über ihm, reckt seinen Dreizack, was übrigens auch ohne Meer eine Berechtigung hat. Denn Tridentum, die Dreizähnige, hieß die Stadt bei den alten Römern.

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